„Zeit heilt alle Wunden“ ist ein gutes Beispiel für eine sehr dumme Volksweisheit. Und es gibt viel zu viele Menschen, die tatsächlich danach leben. Wenn etwas Schlimmes passiert, dann warten sie einfach ab und hoffen, dass es irgendwann einmal nicht mehr wehtut.
Bist du auch einer dieser Menschen, der auf die magischen Fähigkeiten der Zeit vertraut anstatt sich proaktiv um seinen Schmerz zu kümmern? Dann bist du in diesem Blogpost genau richtig.
Hier geht es darum, warum Zeit keine Wunden heilt und was du tun kannst, um deinen Schmerz aufzuarbeiten.
Wenn etwas passiert, was dir wehtut, ist es völlig verständlich, den Schmerz erst einmal abzulehnen. Vielleicht hast du das Gefühl, dass der Schmerz dich überflutet und du die Kontrolle verlierst. Eine Reaktion darauf kann sein, dass du den Schmerz rationalisierst oder ihn überhaupt nicht fühlen willst.
Neulich sagte eine meiner Klientinnen im Coaching über den Tod ihres Vaters, sie hoffe „…dass es irgendwann mal aufhört, dass man da immer dran denken muss.“
An diesem Satz fallen mir sofort drei Dinge auf, die nicht wahr sind.
Zum Einen gibt die Person in diesem Satz völlig die Verantwortung für ihre Gefühle an die Zeit ab. „Irgendwann“ soll der Schmerz aufhören. Einfach so am besten.
Warum sollte er?
Gibt es ein Ablaufdatum für Schmerz? Hat sie einen Vertrag unterschrieben, der irgendwann zu einem festen Datum endet? Der Schmerz hört nicht einfach so auf, nur weil eine bestimmte Zeit vergangen ist. Der Schmerz ist kein von einem kapitalistischen Wirtschaftssystem entwickeltes Küchengerät, das mit ziemlicher Sicherheit nach fünf Jahren kaputt geht.
Emotionale Heilung hat nichts mit Zeit zu tun. Emotionaler Schmerz ist kein gebrochenes Bein.
Die Trauer über einen verstorbenen Menschen kann nach zwanzig Jahren noch fast genauso intensiv sein wie kurz nachdem es passiert ist. Während ein anderer Mensch einen ähnlich intensiven Verlust vielleicht schon nach einem Jahr relativ gut aufgearbeitet hat. Die Zeit ist hier nicht der entscheidende Faktor.
Die zweite Sache, die an diesem Satz nicht wahr ist, ist das Wort „man“. Die Person redet von ihrem ganz persönlichen individuellen Schmerz und trotzdem benutzt sie das Wort man. Was hier passiert ist, dass sie sich von ihren eigenen Gefühlen dissoziiert. Nicht sie ist die Person, die einen schlimmen Verlust zu verkraften hat, sondern man. Damit lässt sie den Schmerz nicht an sich heran und übernimmt nicht die Verantwortung für ihre Gefühle. Die Wunde so zu heilen, wird schwierig.
Und last but not least benutzt sie das Wort „denken“, obwohl es hier um ein Gefühl und nicht ums Denken geht.
Warum ist es denn schlimm für sie, an ihren toten Vater zu denken? Weil der Gedanke mit einem Gefühl verbunden ist. Weil bei dem Gedanken an ihn auch der Schmerz hochkommt. Und den möchte sie nicht. Solange sie das Problem von der emotionalen auf die gedankliche Ebene verschiebt, wird es kaum zu lösen sein.
Die Frage, ob sie sich manchmal Zeit dafür nimmt, sich einfach hinzusetzen und um ihren Vater zu weinen, verneint sie. Dennoch hofft sie, „…dass es irgendwann mal aufhört, dass man da immer dran denken muss.“
Den Schmerz fühlen
Zeit allein heilt keine Wunden. Was sie hingegen heilt, ist zu fühlen.
Den Schmerz zu umarmen und ihn anzunehmen, das heilt ihn.
Jetzt kann es ein ziemlich weiter Weg vom Ablehnen des Schmerzes und dem Vertrauen auf die Zeit hin zu dem bejahenden Fühlen meines Schmerzes sein. Diesen Schalter umzuswitchen wird dir vielleicht erst einmal nicht leicht fallen. Vielleicht braucht es dafür etwas Übung.
Ich lade dich dazu ein, dir einmal die folgenden Fragen zu stellen:
Welche alte Wunde schleppst du heute noch mit dir rum, weil die Zeit sie nie geheilt hat?
Und was kannst du heute selber dafür tun, diese Wunde zu heilen?
Vielleicht hast du in deiner Kindheit Dinge erlebt, die für dich traumatisch waren. Vielleicht musstest du mit dem Verlust eines geliebten Menschen klarkommen. Vielleicht bist du nie richtig über die Trennung von deinem Ex-Partner oder deiner Ex-Partnerin hinweggekommen.
Welche Wunde auch immer du mit dir herumträgst: Die Zeit hat sie nicht geheilt. Nur du kannst sie heilen. Nur du kannst dich von diesem Schmerz erlösen. Nur du kannst Frieden mit dieser Sache machen.
Ich lade dich dazu ein, dir einmal genau klarzumachen, welche offenen Wunden du mit dir herumträgst. Und dann mache dir einen realistischen Plan zur Heilung deiner Wunden.
Natürlich kostet es erst einmal Überwindung, ins Fühlen zu kommen. Dafür musst du dich ein bisschen pushen.
Dennoch finde ich es wichtig, dabei nicht zu hart zu dir zu sein.
Vielleicht möchtest du dich erst einmal für 30 Minuten mit deinem Schmerz verabreden. Für ein erstes Kennenlernen. Vielleicht sogar für eine noch kürzere Zeitspanne. Hauptsache, du fängst an und tust den ersten Schritt.
Viele kleine Schritte, die du regelmäßig gehst, führen viel eher zum Erfolg als ein großer Schritt.
Wenn du einen großen Schritt machst und dich damit total überforderst, dann ist dir damit auch nicht geholfen. Aber wenn du jeden Tag einen kleinen Schritt machst, dann kommen dein Körper und dein Geist auch mit. Du veränderst deinen Umgang mit dem Schmerz langsam und nachhaltig.
Und insofern kommt dann auch wieder die Zeit ins Spiel. Aber eben nur in Verbindung mit dem Fühlen.
Den Schmerz zu fühlen, das heilt den Schmerz. Ganz still. Mit dem Blick nach innen. Für dich und mit dir. So geschieht Heilung.
Zeit heilt keine Wunden. Aber du schon. Du kannst deine Wunden heilen.