Bei der Frage – Rationalität oder Liebe? Herz oder Kopf? – Unterliegen wir alle einer gesellschaftlichen Prägung.
Wir leben in einer Gesellschaft, die uns dazu erzieht, unseren Verstand immer mehr zu kultivieren.
Erst wirst du in die Schule geschickt und dort sollen dir Lehrer und Lehrerinnen das Denken beibringen. Sie sollen dir beibringen, zu abstrahieren, zu multiplizieren, zu philosophieren und Gleichungen nach x aufzulösen.
Und diese schulische Bildung ist DAS Mittel, um Bestätigung zu bekommen. Denn, wenn du dich in der Schule gut machst, dann bekommst du eine Menge Anerkennung. Diese Bestätigung kommt dem Gefühl, geliebt zu werden, vielleicht noch am nächsten kommt in kapitalistischen Gesellschaften.
Deine Eltern loben dich. Deine Lehrer*innen loben dich.
Die Unterdrückung des Herzens
Was dem Menschen damit signalisiert wird, ist, dass er etwas tun muss, um liebenswert zu sein.
Er muss sich auf eine bestimmte gesellschaftlich akzeptierte Art und Weise verhalten, damit er in dieser Gesellschaft Wertschätzung erfährt. Und diese Wertschätzung ist in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft untrennbar gebunden an die Leistung des Verstandes.
Stelle dir nur einmal vor, es gäbe in der Schule ein Fach Namens: emotionale Intelligenz. Oder: Spiritualität und Psychologie.
Stelle dir nur einmal vor, du kämst morgens in die Schule und vor dem Unterricht würde die Lehrperson zehn Minuten lang eine Meditation anleiten.
Stelle dir nur einmal vor, deine Lehrer*innen würde zu dir sagen: „Du bekommst für meinen Unterricht eine 1+, denn du hast wirklich gelernt, dein Herz zu öffnen. Deine Liebesfähigkeit hat sich unglaublich entwickelt in diesem Schuljahr. Du bist ein*e sehr bereichernde*r Schüler*in!“
….unvorstellbar oder?
Nach dieser Schulzeit, die dich zum guten und tüchtigen Denker erziehen soll, kommt dann eine Phase, in der die Gesellschaft sich einen tüchtigen Arbeitnehmer wünscht. Und auch dieser Arbeitnehmer ist auf eine solche Weise konzipiert, dass er vor allem in seinem Verstand leben soll.
Denn die meisten Menschen entscheiden sich nach rationalen Kriterien für ihren Job: Womit verdient man am meisten? Welcher Beruf hat viel Prestige? Womit würde ich meine Eltern stolz machen?
Das Herz wird bei dieser Wahl selten befragt. Und auch während der ganzen Jahrzehnte als Arbeitnehmer stellen sich die wenigsten Menschen zwischendurch mal die Frage, ob dieser Job denn eigentlich immer noch passt. Sie bleiben dabei, weil sie sich einmal dafür entschieden haben und weil es ja auch vernünftig ist.
„Etwas anderes zu machen ist ja auch eigentlich gar nicht mehr möglich in meinem Alter. Und ich habe ja auch Verantwortung meinen Kindern gegenüber.“
Das Herz wird also so gut es geht ignoriert, unterdrückt und mit einer dicken Eisschicht überzogen.
Herz und Verstand ins Gleichgewicht bringen
Doch wahre Einheit und wahres zufrieden sein kann nur entstehen, wenn ein Mensch mit Herz und Verstand im Einklang ist.
Das heißt, ich schlage hier nicht vor, den Verstand völlig zu ignorieren und nur noch auf das Herz zu hören.
Dann würden wir wieder den gleichen Fehler machen, nur dieses Mal andersherum.
Es geht um Einheit. Es geht um Balance. Herz und Verstand wollen ihren Platz haben.
Und das kann nur erreicht werden, wenn wir lernen, in den richtigen Situationen unser Herz um Rat zu fragen und in den richtigen Situationen auf unseren Verstand zu hören.
Was meine ich damit?
Wenn du zum Beispiel in einer Partnerschaft bist und rational gesehen wäre es total klug, für immer zusammen zu bleiben, aber du liebst deinen Partner / deine Partnerin nicht mehr – dann solltest du natürlich auf dein Herz hören, denn das ist keine Entscheidung des Verstandes.
Wenn du deinen Job gerne Hals über Kopf kündigen würdest, aber das zu ernsthaften finanziellen Problemen führen würde, dann solltest du vielleicht den Job noch behalten und dir aus dem Job heraus einen Neuen suchen. Auch wenn das bedeutet, dass dein Herz ein bisschen leidest, weil du noch einen Job machst, den du eigentlich gar nicht willst.
Es geht mir darum, den Verstand aus seiner übermäßigen Erhöhung zu befreien.
Denn Dinge mit dem Verstand zu betrachten, macht uns nicht unbedingt glücklich. Und glücklich sein ist doch am Ende das, was wir alle wollen oder?
Also: Der Verstand hat durchaus seinen Wert, aber er hat auch seine Grenzen. Deswegen brauchen wir Herz und Verstand.
Mit dem Verstand umzugehen, das wurde uns allen zur Genüge beigebracht. Darin brauchen wir nicht noch mehr Übung. Und diese Welt braucht nicht noch einen rationalen Menschen, noch einen Wissenschaftler, noch eine Kritikerin.
Worauf es jetzt wirklich ankommt, ist, dass wir lernen, mit unseren Gefühlen umzugehen. Emotionale Kompetenz zu entwickeln, das ist das, was dem modernen westlichen Menschen im 21. Jahrhundert fehlt.
Die Stimme des Herzens
Ja, und wie macht man das nun? Mit den Gefühlen umgehen?
Erst einmal ist auch das ein Prozess. Niemand wird von heute auf morgen vom Kopf- zum Herzensmensch. Was wir aber tun können, ist, jetzt den ersten Schritt dafür zu tun, in eine Balance zu kommen. Wir können anfangen, unser Innenleben zu erforschen und die Stimme unseres Herzens wahrzunehmen.
Was meine ich damit: Stimme des Herzens?
Damit meine ich deine Intuition.
Die Meisten von uns haben leider völlig verlernt, auf sie zu hören.
Aber auch das können wir wieder erlernen. Immer, wenn du vor einer Entscheidung stehst, meldet sich wahrscheinlich die Stimme deines Verstandes und wägt die Vor- und Nachteile verschiedener Optionen für dich ab.
Wenn du A machst, könnte das zur Konsequenz X führen und wenn du B machst, könnte das zur Konsequenz Z führen. Und so weiter, und so weiter…
Doch neben dieser Stimme deines Verstandes gibt es eigentlich auch noch die Stimme deines Herzens.
Hast du je wahnsinnig mit einer Entscheidung gerungen und du hast nicht verstanden, warum? Schließlich war diese Entscheidung doch die einzig Vernünftige und alles andere wäre völlig schwachsinnig gewesen.
Du hast wahrscheinlich deswegen mit dieser Entscheidung so gekämpft, weil dein Herz eigentlich etwas anderes wollte. Du hast die Stimme deines Herzens aber nicht hören wollen; du hast sie unterdrückt.
Und auch hier: Ich bin nicht der Meinung, dass man immer auf seine Intuition hören sollte. Aber: Man sollte beide Optionen kennen, beide Stimmen hören, damit man wirklich eine gute Entscheidung treffen kann, die alles für dich Wichtige berücksichtigt.
Übung:
Wenn du das nächste Mal vor einer Entscheidung stehst und du wirst dir in dem Moment bewusst, dann horche einmal in dich hinein.
Werde zur neutralen Beobachterin / zum neutralen Beobachter.
Frage in dich hinein: „Verstand, was würdest du jetzt machen?“ Und dann lausche auf die Antwort.
Anschließend frage: „Herz, was würdest du jetzt machen?“ Und dann lausche wieder der Antwort.
Höre beiden Instanzen neutral zu und triff dann eine Entscheidung.
Eine freie Entscheidung.
Eine bewusste Entscheidung.
Kenne deinen Verstand, aber kenne auch dein Herz.
Beherrsche das Denken, aber beherrsche auch das Fühlen.